Das Proletarierweib
O wende mir Dein bleiches Haupt
Mit mildem Schwesterblicke zu!
Ich bin so lust- und glückberaubt
Wie Du, gequältes Weib, wie Du.
Das Gift, das durch die Brust Dir gährt.
Die Reichthumsschlange, die dich biß.
Sie hat mit Leid auch mich genährt,
Getränkt auch mich mit Bitternis.
O fleh‘ mich nicht so janmervoll,
So ohne Maßen traurig an!
Ich will besänft’gn Deinen Groll,
Will trösten, was ich trösten kann.
Auf Deinem Leben lag die Noth
Mit schwarzem Fittich ausgespannt,
Nun winkt Dir der Erlöser Tod
Mit seiner bleichen Schattenhand.
Du warbst, dem holden Licht entrückt,
Den Eltern Brot, ein schwächlich Kind,
Än dunkle Winkel hingedrückt
Wobst Du die blauen Augen blind.
Mit deinem Manne Tag für Tag
Hast Du gekämpft, ein treues Weib,
Der Fäden Schlag und Gegenschlag
War Euer Flitterzeitvertreib.
O weine nicht! O weine nicht!
Nun hat der Groll mich selbst gepackt.
Wenn so das Glück in Scherben bricht,
Schäumt auf der Zornfluth Katarakt.
Der Vater Deiner Kinder sank
Zerrädert in ein schaurig Grab,
Da schafftest Du, bis matt und krank
Dir Gott, der Herr, den Abschied gab.
O gib zum Abschied mir die Hand!
Der Adern blau Gewebe zuckt.
Die Abenddämmerung leckt die Wand,
Gleich hat sie Dich und mich verschluckt.
Geh‘ Du zum schönsten Schlummer ein
Und stärke Deine schwache Brust
Mit diesem Ungarfeuerwein,
Und höre, was Du träumen mußt:
Der Knabe, den Dein Leib gebar.
Den Du mit Kummer aufgesäugt,
Zieht hoch voran der Heldenschar,
Die alle Noth von hinnen scheucht.
Sein blaues Auge glänzt voll Kraft
In’s Lichtmeer einer fernen Zeit,
Die Eisenhand umspannt den Schaft
Der purpurnen Gerechtigkeit.
Arbeiterinnen-Zeitung (Wien), 1. Jahrg., 15. Juli 1892, Nr. 14, S. 1. Online